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MVZ-Betrug nach BGH 2020 – Verteidigungsstrategien: Das wegweisende Urteil und seine Folgen für die Praxis

18. Juli 2025

Der MVZ Abrechnungsbetrug ist seit dem wegweisenden BGH-Urteil vom 19. August 2020 (Az. 5 StR 558/19) eines der brisantesten Themen im Medizinstrafrecht. Ärzte, Apotheker und MVZ-Betreiber müssen verstehen, wann eine zulässige Gesellschaftskonstruktion in strafbaren MVZ Betrug umschlägt und welche Verteidigungsstrategien bei Strohmann-Vorwürfen erfolgversprechend sind.

Das große BGH-Urteil zu MVZ-Abrechnungsbetrug

Mit seinem Urteil vom 19. August 2020 hat der Bundesgerichtshof eine Grundsatzentscheidung zum Abrechnungsbetrug bei Medizinischen Versorgungszentren getroffen, die weitreichende Konsequenzen für die Gesundheitsbranche hat. Der Fall betraf einen Hamburger Apotheker, der sich über eine „Strohmann“-Konstruktion unzulässig an einem MVZ beteiligt hatte und dafür zu dreieinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde.

Der 5. Strafsenat des BGH stellte in seinem zweiten Leitsatz unmissverständlich klar:

„Ein Vertragsarzt, der Leistungen erbringt, ohne die sozialrechtlichen Voraussetzungen der kassenärztlichen Abrechnung zu erfüllen, handelt außerhalb des vertragsärztlichen Abrechnungssystems auf eigenes wirtschaftliches Risiko.“

Diese streng formale Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts führt dazu, dass selbst bei ordnungsgemäßer medizinischer Behandlung ein Betrug vorliegen kann, wenn die formalen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Die Kernaussagen des BGH

Das Gericht betonte, dass bei Verstößen gegen die Gründungsvoraussetzungen des § 95 Abs. 1a SGB V der Vergütungsanspruch vollständig entfällt. Mit der Einreichung der Sammelerklärungen werde konkludent wahrheitswidrig erklärt, dass alle gesetzlichen Voraussetzungen zur Abrechnung vorliegen. Der dritte Leitsatz bringt es auf den Punkt:

„Entsteht nach dieser streng formalen Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts kein Vergütungsanspruch, ist derjenige betrügerisch geschädigt, dem ein solcher vorgespiegelt wird und der irrtumsbedingt darauf zahlt.“

Im konkreten Fall hatte der Apotheker über einen vorgeschobenen Vertragsarzt Mehrheitsanteile an einem MVZ erworben. Der als Strohmann fungierende Arzt war verpflichtet, seine Gesellschafterrechte ausschließlich nach den Weisungen des Apothekers auszuüben und wurde von sämtlichen unternehmerischen Risiken freigestellt. Die eingereichten Quartalsabrechnungen führten zu Zahlungen von fast 1,5 Millionen Euro.

Wann liegt KEIN Gestaltungsmissbrauch vor?

Für die Verteidigung ist es entscheidend zu verstehen, unter welchen Umständen kein strafbarer Gestaltungsmissbrauch vorliegt. Das BGH-Urteil definiert in Randnummer 31 klar: „Für die Rechtmäßigkeit der Gewährung vertragsärztlichen Honorars kommt es jedoch dann nicht auf die formalen Umstände an, wenn ein Fall des Gestaltungsmissbrauchs anzunehmen ist. Ein solcher liegt vor, wenn die vorgegebenen formalen Verhältnisse nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen.“

Echte Gesellschafterstellung

Ein Gestaltungsmissbrauch liegt nicht vor, wenn der eingetragene Gesellschafter tatsächlich eigenständige unternehmerische Entscheidungen trifft und das wirtschaftliche Risiko real trägt. Die bloße formale Eintragung genügt nicht – es kommt auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Der Gesellschafter muss seine Rechte selbstständig ausüben können, ohne an Weisungen Dritter gebunden zu sein. Die Gewinnverteilung muss den tatsächlichen Gesellschafterverhältnissen entsprechen.

Wahrung der ärztlichen Selbstständigkeit

Der BGH betont unter Verweis auf § 32 Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV in Randnummer 33: „Danach muss der Vertragsarzt auch bei einer Tätigkeit in einem MVZ über ein gewisses Maß an Selbstständigkeit verfügen.“ Dies bedeutet, dass die im MVZ tätigen Ärzte ihre medizinischen Entscheidungen frei und unabhängig treffen können müssen. Eine unzulässige Einflussnahme auf das Verordnungsverhalten darf nicht erfolgen, die ärztliche Therapiefreiheit muss gewahrt bleiben.

Angemessene Risikoverteilung

Besonders wichtig ist laut BGH die Verteilung des unternehmerischen Risikos. In Randnummer 32 heißt es: „Schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen dem Gründer des MVZ und einem Investor dürfen aber nicht dazu führen, dass das unternehmerische Risiko auf den Investor übergeht.“ Eine ordnungsgemäße Risikoverteilung liegt vor, wenn keine Freistellungsvereinbarungen zugunsten des formalen Gesellschafters bestehen und dieser tatsächlich für Verbindlichkeiten der MVZ-Trägergesellschaft haftet.

Verteidigung gegen „Strohmann“-Vorwürfe beim MVZ Betrug

Die BGH-Definition des Strohmanns

Der BGH definiert in seinem Urteil zum MVZ Abrechnungsbetrug eindeutig in Randnummer 32: „Denn bei dem Angekl. D handelte es sich lediglich um einen „Strohmann“, während tatsächlich der Angekl. Z die Funktionen eines Gesellschafters der MVZ GOB-GmbH wahrnahm.“

Typische Fallkonstellationen beim MVZ Abrechnungsbetrug

Eine Strohmann-Konstruktion ist typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass der Gesellschafter seine Rechte nur nach Weisung ausübt, vollständig wirtschaftlich vom Hintermann abhängig ist, von allen unternehmerischen Risiken freigestellt wird und sämtliche Gewinne an Dritte abführen muss. Diese Merkmale führen nach der aktuellen BGH-Rechtsprechung regelmäßig zur Annahme eines MVZ Betrugs.

Strategische Verteidigungsansätze

Bei der Verteidigung gegen Strohmann-Vorwürfe kommt es entscheidend auf den Nachweis der tatsächlichen Gesellschafterstellung an. Beweismittel hierfür sind Protokolle von Gesellschafterversammlungen mit eigenständigen Entscheidungen, dokumentierte Ablehnungen von Weisungen, Nachweise über eigene Investitionen und Risikoübernahme sowie Belege für eigenständige Geschäftsführungsentscheidungen.

Ein weiterer wichtiger Verteidigungsansatz ist der fehlende Vorsatz. Der BGH betont in Randnummer 18 die Bedeutung des subjektiven Elements: „Insbesondere ist den Urteilsgründen im Gesamtzusammenhang hinreichend zu entnehmen, dass sich der Angekl. F der „Strohmann“-Konstruktion bewusst war.“ Die Verteidigung kann hier ansetzen und das Vertrauen auf rechtliche Beratung, die dokumentierte Rechtsauffassung zur Zulässigkeit der Konstruktion oder die Gutgläubigkeit bezüglich der Rechtmäßigkeit nachweisen.

Rechtliche Argumentation

Obwohl der BGH verfassungsrechtliche Bedenken in Randnummer 29 verwirft, können in der Verteidigung dennoch Einwände bezüglich der Berufsfreiheit (Art. 12 GG), des Verhältnismäßigkeitsprinzips und der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit vorgebracht werden.

Praktische Verteidigungstipps bei MVZ Abrechnungsbetrug

Sofortmaßnahmen bei Ermittlungen

Das oberste Gebot bei Ermittlungen wegen Abrechnungsbetrug beim MVZ lautet: Schweigen ist Gold. Das BGH-Urteil zeigt eindrücklich die Gefahr unbedachter Äußerungen. Keine Aussage sollte ohne vorherige Akteneinsicht erfolgen, um Widersprüche zu vermeiden und sich vor Selbstbelastung zu schützen.

Die Komplexität der Materie erfordert spezialisierte Verteidigung. Der BGH führt in Randnummer 49 aus: „Das sozialrechtliche Abrechnungssystem ist vielmehr darauf angelegt, dass Vertragsärzte und ihnen gleichgestellte MVZ einen Zahlungsanspruch nur erwerben, wenn sie bei ihrer Tätigkeit die entscheidenden sozialrechtlichen Regeln einhalten.“ Dies zeigt, dass Expertise in Medizinrecht, Sozialversicherungsrecht, Strafrecht und der Abrechnungssystematik im Gesundheitswesen unerlässlich ist.

Zur Dokumentensicherung gehören alle Gesellschafterbeschlüsse, Beratungsprotokolle und Rechtsauskünfte, die Korrespondenz mit Behörden sowie sämtliche Finanzunterlagen und Risikonachweise. Diese Unterlagen sind für eine erfolgreiche Verteidigung essentiell.

Besondere Herausforderungen

Die Rechtsprechung tendiert zur Annahme einer Strohmann-Konstruktion bei passiver Gesellschafterstellung, Finanzierung durch Dritte, fehlender unternehmerischer Aktivität und erkennbarer Weisungsgebundenheit. Die Verteidigung muss diese Indizien durch aktive Dokumentation aller Gesellschafteraktivitäten, Nachweise eigenständiger Entscheidungen, Belege für Risikoübernahme und transparente Gewinnverwendung entkräften.

Eine besondere Herausforderung stellt die Koordination mehrfacher Verfahren dar. Das BGH-Urteil zeigt mit der Einziehung von 1,5 Millionen Euro und Freiheitsstrafen bis zu 3,5 Jahren die Dimension der Konsequenzen. Neben dem Strafverfahren drohen KV-Rückforderungen in Millionenhöhe, berufsrechtliche Verfahren bis zum Approbationsentzug sowie steuerliche Außenprüfungen mit erheblichen Nachzahlungen.

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 5. Mai 2021 (2 BvR 2023/20) die Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil nicht zur Entscheidung angenommen. Die Begründung ist eindeutig: „Der strafrechtliche Vorwurf sei nicht der Betrieb eines MVZ, sondern die Beteiligung an der Täuschung der Mitarbeitenden der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) sowie der Krankenkasse.“ Damit ist die strenge Rechtsprechungslinie verfassungsrechtlich abgesichert.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Das BGH-Urteil vom 19.8.2020 hat die Rechtslage für MVZ-Betreiber nachhaltig verschärft. Die zentrale Botschaft des BGH aus Randnummer 49 ist eindeutig: „Ein Vertragsarzt, der Leistungen erbringt, ohne die sozialrechtlichen Voraussetzungen der kassenärztlichen Abrechnung zu erfüllen, handelt letztlich außerhalb des vertragsärztlichen Abrechnungssystems auf eigenes wirtschaftliches Risiko.“

Für die Praxis bedeutet dies: Transparenz muss oberste Maxime sein. Alle Beteiligungsverhältnisse müssen transparent und rechtskonform gestaltet werden, mit vollständiger Offenlegung gegenüber den Zulassungsbehörden. Eine lückenlose Dokumentation aller Entscheidungsprozesse und Gesellschafterversammlungen ist unerlässlich. Compliance wird zur Daueraufgabe mit regelmäßigen Überprüfungen der Gesellschaftsstrukturen.

Bei Unsicherheiten sollte sofort spezialisierte Rechtsberatung eingeholt werden – keine Experimente mit gesellschaftsrechtlichen Konstruktionen sind angeraten. Im Ernstfall ist eine professionelle Verteidigung mit koordinierter Strategie über alle Verfahrensebenen zwingend erforderlich. Die streng formale Betrachtungsweise des Sozialversicherungsrechts lässt wenig Spielraum. Wer im MVZ-Bereich tätig ist, muss die rechtlichen Vorgaben penibel einhalten – andernfalls drohen existenzbedrohende Konsequenzen.


Die Problematik der Strohmann behandle ich ausführlich in meinem Artikel „Das Strohmann-Kartell“, der auch Grundlage für einen ARD-Beitrag war.

Autor

zu sehen ist ein Portrait des Fachanwalts Felix Haug.
Rechtsanwalt Felix F. Haug
  • Fachanwalt für Strafrecht
  • Spezialisierung  Medizinstrafrecht
  • Kanzlei für Wirtschaftsstrafrecht