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Ärztliche Körperverletzung: Wenn das Skalpell zur Waffe wird – BGH zu Eingriffen ohne medizinische Indikation

26. Juni 2025

BGH, Beschluss vom 19.12.2023 – 4 StR 325/23

Der schmale Grat zwischen Heileingriff und Körperverletzung

Die Grenzen zwischen medizinisch indizierten Eingriffen und solchen auf Patientenwunsch verschwimmen in der modernen Medizin zunehmend. Mit seinem Beschluss vom 19. Dezember 2023 hat der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine für die Praxis bedeutsame Klarstellung zur ärztlichen Körperverletzung getroffen: Medizinische Instrumente können auch dann gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB darstellen, wenn sie von approbierten Ärzten kunstgerecht eingesetzt werden – sofern der Eingriff nicht medizinisch geboten war.

Die Kernaussage des BGH

Der Bundesgerichtshof stellte in seinem Leitsatz fest:

„Medizinische Instrumente, die von approbierten Ärzten bei nicht gebotenen Heileingriffen kunstgerecht eingesetzt werden, stellen – entsprechend den allgemein hierfür geltenden Rechtsprechungsgrundsätzen – gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB dar, wenn sie nach ihrer objektiven Beschaffenheit und der Art ihrer Verwendung im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen.“

Diese Entscheidung reiht sich ein in die gefestigte Rechtsprechung zur Körperverletzung durch ärztliche Eingriffe. Bereits seit langem ist anerkannt, dass jeder ärztliche Eingriff tatbestandlich eine Körperverletzung darstellt, die nur durch Einwilligung und medizinische Indikation gerechtfertigt wird.

Das wirklich Neue: Bisher wurden nicht indizierte ärztliche Eingriffe „nur“ als einfache Körperverletzung nach § 223 StGB gewertet. Mit dieser Entscheidung stuft der BGH sie als gefährliche Körperverletzung nach § 224 StGB ein – das bedeutet einen massiv erhöhten Strafrahmen.

Praktische Relevanz für das Medizinstrafrecht

Die Tragweite dieser Entscheidung zeigt sich besonders in Bereichen, in denen die Grenze zwischen medizinischer Notwendigkeit und Patientenwunsch fließend verläuft. Die ästhetische Chirurgie steht hier naturgemäß im Fokus, aber auch andere Fachrichtungen sind betroffen, wenn Eingriffe primär auf Wunsch des Patienten und ohne zwingende medizinische Gründe erfolgen.

Für die strafrechtliche Bewertung kommt es nicht mehr allein auf die Einwilligung des Patienten an. Vielmehr rückt die Frage der medizinischen Indikation in den Mittelpunkt. Dies verschärft die Anforderungen an die ärztliche Dokumentation erheblich. Eine lückenhafte oder nachträglich nicht mehr nachvollziehbare Begründung der medizinischen Notwendigkeit kann im Strafverfahren fatale Folgen haben.

Ähnliche Dokumentationsprobleme zeigen sich auch bei der Untreue durch Strohmann-Geschäftsführer – auch hier ist die zeitnahe und vollständige Dokumentation entscheidend.

Die Qualifikation als gefährliche Körperverletzung

Die Einordnung als gefährliches Werkzeug führt zur Anwendung des § 224 StGB mit einem Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.

Der entscheidende Unterschied:

  • Vor dieser Entscheidung: Nicht indizierte Eingriffe = einfache Körperverletzung (§ 223 StGB), Strafrahmen bis zu fünf Jahren
  • Nach dieser Entscheidung: Nicht indizierte Eingriffe mit medizinischen Instrumenten = gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB), Strafrahmen sechs Monate bis zehn Jahre

Diese Verdopplung des Höchststrafmaßes ist keine juristische Petitesse. Sie signalisiert eine deutliche Verschärfung der strafrechtlichen Bewertung und hat praktische Konsequenzen: Verjährungsfristen verlängern sich, Verfahrenseinstellungen werden mühsamer, und selbst bei geringen Verletzungsfolgen drohen nun empfindliche Strafen.

Besonders brisant wird die Situation, wenn Komplikationen auftreten. Was bei medizinisch indizierten Eingriffen als schicksalhafter Verlauf oder allgemeines Behandlungsrisiko eingeordnet werden könnte, wird bei fehlender Indikation schnell zum strafrechtlichen Problem. Die Beweislast für das Vorliegen einer medizinischen Indikation liegt dabei faktisch beim Arzt.

Strafrechtliche Konsequenzen für betroffene Ärzte

Aus strafrechtlicher Sicht bedeutet die BGH-Entscheidung eine erhebliche Risikoverschiebung. Die Qualifikation als gefährliche Körperverletzung hat nicht nur Auswirkungen auf das Strafmaß, sondern beeinflusst den gesamten Verfahrensverlauf.

Die verlängerten Verjährungsfristen bedeuten, dass Ärzte noch Jahre nach einem Eingriff mit Strafverfahren rechnen müssen. Verfahrenseinstellungen nach § 153 StPO sind bei Qualifikationstatbeständen zwar weiterhin möglich, erfordern aber eine intensivere Überzeugungsarbeit. Auch die Möglichkeit einer Verständigung im Strafverfahren wird durch den erhöhten Strafrahmen beeinflusst.

Im Ermittlungsverfahren müssen betroffene Ärzte damit rechnen, dass die Staatsanwaltschaft intensiver ermittelt. Die höhere Strafandrohung kann die Verhandlungsposition verschlechtern und macht es schwieriger, das Verfahren frühzeitig zu beenden.

Der Konflikt zwischen Dienstleistung und ärztlicher Verantwortung

Die BGH-Entscheidung verdeutlicht ein grundsätzliches Dilemma der modernen Medizin: Ärzte sehen sich zunehmend als Dienstleister, die Patientenwünsche erfüllen sollen. Gleichzeitig unterliegen sie ihrer berufsrechtlichen und strafrechtlichen Verantwortung, die eine reine Wunscherfüllung ohne medizinische Rechtfertigung verbietet.

Dieser Konflikt lässt sich nicht vollständig auflösen. Ärzte müssen im Einzelfall abwägen und ihre Entscheidung sorgfältig dokumentieren. Im Zweifel sollte die ärztliche Fürsorgepflicht Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben.

Verteidigungsstrategien im Strafverfahren

Kommt es zu einem Ermittlungsverfahren, steht die Verteidigung vor besonderen Herausforderungen. Die nachträgliche Begründung einer medizinischen Indikation ist erfahrungsgemäß schwer vermittelbar. Entscheidend ist daher, was zum Zeitpunkt des Eingriffs dokumentiert wurde.

Die Verteidigung sollte frühzeitig medizinische Sachverständige einbinden, um die Indikationsstellung fachlich bewerten zu lassen. Dabei gilt es zu prüfen, ob zum Zeitpunkt des Eingriffs vertretbare medizinische Gründe vorlagen – auch wenn diese möglicherweise an der Grenze zur reinen Wunschmedizin lagen.

Ein weiterer Ansatzpunkt kann die Frage sein, ob die verwendeten Instrumente tatsächlich die Voraussetzungen eines gefährlichen Werkzeugs erfüllen. Nicht jedes medizinische Instrument ist automatisch geeignet, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Die konkrete Art der Verwendung und die tatsächlich eingetretenen Folgen müssen sorgfältig geprüft werden.

Fazit

Die Entscheidung des BGH verschärft die strafrechtlichen Risiken für Ärzte bei nicht medizinisch indizierten Eingriffen erheblich. Die beste Prävention bleibt eine sorgfältige Indikationsstellung und deren lückenlose Dokumentation. Wo Zweifel bestehen, sollte auf den Eingriff verzichtet werden. Die Zeiten, in denen die Patienteneinwilligung als ausreichende Absicherung galt, sind endgültig vorbei.

Wie auch bei Korruptionsdelikten im Gesundheitswesen nach § 299a StGB zeigt sich: Die strafrechtlichen Anforderungen an medizinisches Handeln werden immer strenger.

Autor

zu sehen ist ein Portrait des Fachanwalts Felix Haug.
Rechtsanwalt Felix F. Haug
  • Fachanwalt für Strafrecht
  • Spezialisierung im Medizinstrafrecht
  • Strafrechtskanzlei am Kurfürstendamm in Berlin