„Vertragsarztuntreue“ – hat der Arzt eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse?
1. August 2024
Vertragsarztuntreue und Vermögensbetreuungspflicht
BGH, Beschl. v. 11.05.2021 – 4 StR 350/20
BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – 4 StR 163/16
Macht sich ein Arzt oder sonst ein Angehöriger eines Heilberufs wegen Untreue nach § 266 StGB strafbar, wenn er nicht indizierte Therapien verschreibt? Um diese Frage dreht sich die Problematik der sog. Vertragsarztuntreue. Mit der zunehmenden Ökonomisierung der Gesundheitsfürsorge gewinnt dies Thema stetig an Relevanz . Dass in dieser Frage jedenfalls zwischen der Verschreibung von Heilmitteln und der Verordnung von Leistungen, zum Beispiel der häuslichen Krankenpflege differenziert werden muss, zeigt der Vierte Strafsenat in seinem aktuellen Beschluss auf.
Schwierige Bestimmung der Vermögensbetreuungspflicht
Der Problematik zugrunde liegt eine oftmals schwierige Bestimmung der Vermögensbetreuungspflicht, konstitutives Tatbestandsmerkmal beider Untreuealternativen. Die Vermögensbetreuungspflicht wird nach herrschender Meinung als die Befugnis, beziehungsweise die Pflicht verstanden, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen. Erforderlich ist ein Aufgabenkreis von gewissem Gewicht, es darf sich nicht bloß um eine vertragliche Nebenpflicht handeln. Einigkeit besteht ebenfalls darüber, dass die Vermögensbetreuungspflicht grundsätzlich der Restriktion der weit gefassten Tatbestände dienen soll, um eine uferlose Ausdehnung der Strafbarkeit zu verhindern.
Strafbarkeit des Vertragsarztes
Für die oben aufgeworfene Frage nach der Strafbarkeit des Vertragsarztes ist also maßgeblich, ob dieser eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse hat. Die Problematik schien sich 2012 erledigt zu haben, als der Große Senat für Strafsachen einer Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 2009 (BSGE 105, 157) folgte und entschied, der Vertragsarzt werde in erster Linie für den Patienten und nicht im Interesse der gesetzlichen Krankenkasse tätig (BGH v. 29.03.2012 – GStR 2/11). Er sei folglich nicht „Beauftragter“ der gesetzlichen Krankenkasse. Dies wurde überwiegend als eine Abkehr von der „Vertragsarztuntreue“ verstanden – bis der Vierte Strafsenat einen Fall zu entscheiden hatte, bei dem ein Arzt ohne jegliche medizinische Indikation Heilmittel verordnet hatte, obwohl er wusste, dass die Leistungen nicht erbracht, allerdings gegenüber der Krankenkasse abgerechnet werden würden (BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – 4 StR 163/16).
Abgrenzung von Beauftragung und Vermögensbetreuungspflicht
Hier grenzte der BGH zwischen einer Beauftragung und einer Vermögensbetreuungspflicht ab. Letztere setze, so die Richter, im Gegensatz zu § 299 StGB kein Weisungsverhältnis voraus, sondern könne auch bei einem kooperativen Zusammenwirken der Beteiligten vorliegen. Voraussetzung für die Annahme einer Vermögensbetreuungspflicht sei demnach, dass der Kassenarzt eine so gewichtige Stellung hat, dass er ohne Kontrolle eigenständige Entscheidungen über das Vermögen der gesetzlichen Krankenkasse treffen kann, er letztlich als „Surrogat“ des Vermögensinhabers agiert.
Kritik und Gegenansichten
Dem wird entgegengehalten, unter anderem vom Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart, dass die wirtschaftlichen Belange der Krankenkassen nur eine Nebensächlichkeit darstellten, die Behandlung sich vielmehr an dem Interesse des Patienten orientieren müsse. Diese Position findet auch in der Literatur Zustimmung. Dort wird ergänzend ausgeführt, dass der pflichtgemäß handelnde Arzt nicht die preiswerteste Behandlungsmöglichkeit wählen müsse, sondern jene, die subjektiv am ehesten geeignet ist, das Wohlbefinden des Patienten zu steigern. Wirtschaftliche Aspekte stünden also gerade nicht im Zentrum der ärztlichen Tätigkeit.
Argumentation des BGH
In weiser Voraussicht greift der BGH dieses Argument bereits in seinem Beschluss auf und führt aus, die Annahme einer Hauptpflicht setze nicht voraus, dass es sich um „die bedeutendste Pflicht“ handele. In Abgrenzung zu einer nur nach- oder untergeordneten Pflicht bedürfe es aber einer mitbestimmenden Verpflichtung, die angesichts des hohen Stellenwerts des Wirtschaftlichkeitsgebots bei dem Verhältnis des Vertragsarzts zur gesetzlichen Krankenkasse vorliege.
Besonderheiten des aktuellen BGH-Beschlusses
Der kürzlich entschiedene Fall des BGH weist diesbezüglich allerdings Besonderheiten auf. Der Vierte Strafsenat grenzt sich von seiner eigenen Rechtsprechung aus dem Jahr 2016 ab und verneint in dem hiesigen Strafverfahren eine Vermögensbetreuungspflicht des Arztes. Der maßgebliche Unterschied: der Angeklagte erstellte in 16 Fällen Verordnungen für eine häusliche Krankenpflege und gab dabei wahrheitswidrig an, dass die so verordneten Pflegeleistungen auch erforderlich wären.
Urteil des Tatgerichts und Aufhebung durch den BGH
Das Tatgericht verurteilte wegen Untreue und berief sich dabei auf die bisherige BGH-Rechtsprechung, dieses Urteil hob der Vierte Strafsenat aber auf. Im Gegensatz zu dem vorangegangenen Fall komme dem Vertragsarzt bei der Verordnung von Leistungen nach § 37 Abs. 2 SGB V gerade keine gewichtige Stellung zu. Vielmehr verfügen die gesetzlichen Krankenkassen über weitergehende verfahrensrechtliche Kontrollmöglichkeiten. Die Verordnung liege demnach nicht allein in der Hand des Kassenarztes, anders als bei der Verschreibung von Heilmitteln, die sich einer Kontrollmöglichkeit grundsätzlich entzieht. Im Rahmen der Leistungsverschreibung liegt es also in der Hand der Krankenkasse, ob es zu einer Leistungserbringung kommt.
Was heißt das für die Praxis?
Für die Praxis bedeutet das, dass in Zukunft streng zwischen den Befugnissen des Kassenarztes wird unterschieden werden müssen. Folgt auf die Verordnung ein weiterer Schritt in Form einer Genehmigungsentscheidung der Krankenkasse, fehlt es an der gewichtigen Stellung des Arztes und damit auch an der Vermögensbetreuungspflicht. Eine solche wird vom BGH – wenn sich dies auch massiver Kritik seitens der Literatur ausgesetzt sieht – nur angenommen werden, soweit der Vertragsarzt allein den Leistungsfall herbeiführen kann, so zum Beispiel bei der Verordnung von Heilmitteln.