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Vertragsarztuntreue BGH: Aktuelle Rechtsprechung zur Strafbarkeit von Ärzten

1. August 2024

Vertragsarztuntreue und Vermögensbetreuungspflicht

Die Vertragsarztuntreue nach BGH-Rechtsprechung beschreibt die mögliche Strafbarkeit von Ärzten wegen Untreue. Macht sich ein Arzt nach § 266 StGB strafbar, wenn er nicht indizierte Therapien verschreibt? Diese Frage gewinnt mit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens zunehmend an Bedeutung. Der BGH zeigt in aktuellen Entscheidungen wichtige Differenzierungen auf, die für jeden Vertragsarzt relevant sind.

Die Vermögensbetreuungspflicht als Kernproblem

Schwierige rechtliche Einordnung

Die zentrale Herausforderung bei der Vertragsarztuntreue liegt in der Bestimmung der Vermögensbetreuungspflicht. Diese ist Voraussetzung für beide Untreuealternativen des § 266 StGB.

Nach herrschender Meinung umfasst die Vermögensbetreuungspflicht die Befugnis zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen. Dabei muss es sich um einen Aufgabenkreis von gewissem Gewicht handeln, der über bloße vertragliche Nebenpflichten hinausgeht. Diese Eingrenzung soll die weit gefassten Tatbestände begrenzen und eine uferlose Ausdehnung der Strafbarkeit verhindern.

Hat der Vertragsarzt eine solche Pflicht?

Entscheidend für die Strafbarkeit ist die Frage, ob der Vertragsarzt eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse hat. Diese Problematik schien 2012 geklärt, als der Große Senat für Strafsachen einer Entscheidung des Bundessozialgerichts folgte (BSGE 105, 157). Das Gericht entschied damals, der Vertragsarzt werde in erster Linie für den Patienten und nicht im Interesse der gesetzlichen Krankenkasse tätig (BGH v. 29.03.2012 – GStR 2/11). Er sei folglich nicht als „Beauftragter“ der gesetzlichen Krankenkasse anzusehen. Diese Entscheidung wurde überwiegend als Abkehr von der Vertragsarztuntreue verstanden.

BGH-Rechtsprechung zur Vertragsarztuntreue im Wandel

Der Wendepunkt 2016

Die vermeintliche Klarheit endete jedoch 2016 mit einer überraschenden Entscheidung. Der Vierte Strafsenat hatte über einen Fall zu entscheiden, bei dem ein Arzt ohne jegliche medizinische Indikation Heilmittel verordnet hatte. Der Arzt wusste dabei, dass die Leistungen nicht erbracht, jedoch gegenüber der Krankenkasse abgerechnet werden würden (BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – 4 StR 163/16).

In dieser Entscheidung differenzierte der BGH erstmals zwischen einer Beauftragung, die ein Weisungsverhältnis voraussetzt, und einer Vermögensbetreuungspflicht, die auch bei einem kooperativen Zusammenwirken der Beteiligten vorliegen kann. Entscheidend sei, dass der Kassenarzt eine so gewichtige Stellung innehat, dass er ohne Kontrolle eigenständige Entscheidungen über das Vermögen der gesetzlichen Krankenkasse treffen kann. Er agiere dann letztlich als „Surrogat“ des Vermögensinhabers.

Die Kontroverse in Rechtsprechung und Literatur

Diese neue Linie des BGH stieß auf erheblichen Widerstand. Das OLG Stuttgart vertrat die Auffassung, die wirtschaftlichen Belange der Krankenkassen stellten nur eine Nebensächlichkeit dar. Die Behandlung müsse sich vielmehr am Interesse des Patienten orientieren.

In der juristischen Literatur fand diese Position breite Zustimmung. Kritiker argumentieren, der pflichtgemäß handelnde Arzt müsse nicht die preiswerteste Behandlungsmöglichkeit wählen, sondern jene, die subjektiv am ehesten geeignet sei, das Wohlbefinden des Patienten zu steigern. Wirtschaftliche Aspekte stünden gerade nicht im Zentrum der ärztlichen Tätigkeit.

Der BGH griff diese Kritik in seinen Entscheidungen auf und führte aus, die Annahme einer Hauptpflicht setze nicht voraus, dass es sich um „die bedeutendste Pflicht“ handele. In Abgrenzung zu einer nur nach- oder untergeordneten Pflicht bedürfe es aber einer mitbestimmenden Verpflichtung. Diese liege angesichts des hohen Stellenwerts des Wirtschaftlichkeitsgebots im Verhältnis des Vertragsarzts zur gesetzlichen Krankenkasse vor.

Die aktuelle BGH-Entscheidung zur Vertragsarztuntreue

Ein neuer Fall mit überraschendem Ausgang

Der BGH-Beschluss vom 11.05.2021 (4 StR 350/20) brachte eine weitere Wendung in der Vertragsarztuntreue-Rechtsprechung. Der zugrundeliegende Fall wies besondere Merkmale auf: Ein Arzt hatte in 16 Fällen Verordnungen für häusliche Krankenpflege erstellt und dabei wahrheitswidrig angegeben, die verordneten Pflegeleistungen seien erforderlich.

Das Tatgericht verurteilte den Arzt wegen Untreue und berief sich auf die bisherige BGH-Rechtsprechung aus 2016. Der Vierte Strafsenat hob dieses Urteil jedoch auf und grenzte sich damit von seiner eigenen früheren Rechtsprechung ab.

Die entscheidende Differenzierung

Der BGH verneinte in diesem Fall eine Vermögensbetreuungspflicht des Arztes. Der maßgebliche Unterschied lag in der Art der Verordnung. Bei der Verordnung von Leistungen nach § 37 Abs. 2 SGB V komme dem Vertragsarzt gerade keine gewichtige Stellung zu. Die gesetzlichen Krankenkassen verfügten hier über weitergehende verfahrensrechtliche Kontrollmöglichkeiten.

Im Gegensatz zur Verschreibung von Heilmitteln, die sich einer Kontrollmöglichkeit grundsätzlich entziehe, liege die Verordnung von Pflegeleistungen nicht allein in der Hand des Kassenarztes. Es sei vielmehr die Krankenkasse, die durch ihre Genehmigungsentscheidung bestimme, ob es zu einer Leistungserbringung kommt.

Strafrechtliche Risiken in der Praxis

Die neue Differenzierung des BGH

Für Vertragsärzte bedeutet die aktuelle Vertragsarztuntreue-Rechtsprechung des BGH, dass künftig streng zwischen verschiedenen Befugnissen unterschieden werden muss. Eine Vermögensbetreuungspflicht und damit eine mögliche Strafbarkeit nach § 266 StGB wird nur angenommen, wenn der Vertragsarzt allein den Leistungsfall herbeiführen kann.

Dies ist nach der BGH-Rechtsprechung der Fall bei der Verordnung von Heilmitteln, nicht jedoch bei Leistungen, die einer Genehmigung der Krankenkasse bedürfen. Folgt auf die ärztliche Verordnung ein weiterer Schritt in Form einer Genehmigungsentscheidung der Krankenkasse, fehlt es an der gewichtigen Stellung des Arztes und damit auch an der Vermögensbetreuungspflicht.

Praktische Empfehlungen für Vertragsärzte

Angesichts dieser Rechtslage sollten Vertragsärzte besondere Sorgfalt bei der Dokumentation medizinischer Indikationen walten lassen. Dies gilt insbesondere bei Heilmittelverordnungen, da hier nach der BGH-Rechtsprechung ein erhöhtes strafrechtliches Risiko besteht. Eine nachvollziehbare und fundierte Begründung der medizinischen Notwendigkeit ist essentiell.

Bei Verordnungen, die einer Krankenkassengenehmigung bedürfen, besteht nach aktueller Rechtslage ein geringeres strafrechtliches Risiko. Dennoch sollten auch hier wahrheitswidrige Angaben vermieden werden, da andere Straftatbestände wie Betrug in Betracht kommen können.

Ausblick und offene Fragen

Die Vertragsarztuntreue nach BGH-Rechtsprechung bleibt ein umstrittenes Rechtsgebiet. Die Kritik aus der Literatur an der Differenzierung zwischen verschiedenen Verordnungsarten hält an. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH seine Linie beibehält oder ob der Gesetzgeber regulierend eingreift.

Für die Zukunft stellen sich weitere Fragen: Wie werden neue Formen der digitalen Gesundheitsversorgung bewertet? Welche Rolle spielen Telekonsultationen und digitale Verordnungen? Die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens wird neue rechtliche Herausforderungen mit sich bringen.

Weiterführende Informationen

Aktuelle Entwicklungen zur Vertragsarztuntreue und BGH-Rechtsprechung finden Sie beim Bundesgerichtshof und im Deutschen Ärzteblatt. Weitere Artikel zu verwandten Themen finden Sie in unseren Kategorien Arztstrafrecht und Medizinrecht.


Fazit: Die Vertragsarztuntreue nach BGH-Rechtsprechung hängt entscheidend von der konkreten Befugnis des Arztes ab. Maßgeblich ist, ob er allein über das Vermögen der Krankenkasse verfügen kann oder ob weitere Kontrollmechanismen greifen. Diese Differenzierung bleibt rechtspolitisch umstritten, prägt aber die aktuelle Rechtspraxis.

Autor

zu sehen ist ein Portrait des Fachanwalts Felix Haug.
Rechtsanwalt Felix F. Haug
  • Fachanwalt für Strafrecht
  • Spezialisierung im Wirtschaftsstrafrecht und Medizinstrafrecht
  • Verstetigung beim Vorwurf der Untreue