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Zur Strafbarkeit der Manipulation von postmortaler Organverteilung (Göttinger Leberallokationsskandal)

1. Dezember 2024

BGH, Urteil vom 28.06.2017 – 5 StR 20/16

Wie so häufig im Medizinstrafrecht dreht sich auch dieses Urteil um die Frage, ob moralisch verwerfliches Verhalten eine strafrechtliche Verantwortung begründen kann. Der Leiter der Transplantationschirurgie der Uniklinik Göttingen manipulierte gegenüber der Organverteilungsstelle Eurotransplant systematisch Patientendaten derartig, dass sie auf der Warteliste für ein Spenderorgan nach oben rutschten. Über die Strafbarkeit seines Verhaltens hatte zunächst das Landgericht (LG) Göttingen, später der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden.

Im Zentrum der Anklage stand eine bestimmte Personengruppe: jene Patienten, die durch die Manipulation länger auf ein Organ warten mussten. Ihretwegen wirft die Staatsanwaltschaft dem Transplantationsmediziner versuchten Totschlag in elf Fällen sowie die Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen vor.

Die Vorwürfe unterteilen sich in die „Wartelistenfälle“ und die „Manipulationsfälle“. Bei ersterem hatte der Transplantationschirurg die Aufnahme zweier Patientinnen in die Warteliste bewirkt, obgleich sie (entgegen einer Richtlinie der Bundesärztekammer) noch nicht sechs Monate alkoholabstinent waren. In der Folge führte der Anklagte bei beiden Patientinnen eine Lebertransplantation durch. Auf der Warteliste befanden sich darüber hinaus Falschinformationen über die Krankheits- und Behandlungszustände, die Veranlassung oder Billigung derselben konnte dem Arzt aber nicht nachgewiesen werden.

Im Rahmen der „Manipulationsfälle“ befanden sich die Patienten zwar im Einklang mit den Vorschriften der Bundesärztekammer auf der Warteliste, dort waren aber wahrheitswidrig Angaben vermerkt (so z. B. die Durchführung von Nierenersatztherapien), um einen höheren Listenplatz zu erzielen. Sechs Patienten erhielten in der Folge eine ihnen – zumindest zu diesem Zeitpunkt – nicht zustehende Spenderleber.

Darüber hinaus bewirkte der Arzt bei einzelnen Patienten ebenso die richtlinienwidrige Aufnahme auf die Warteliste.

Es bestanden keine Anhaltspunkte für den Verdacht, der Angeklagte habe aus wirtschaftlichen Motiven gehandelt. Auch die These, der Arzt habe die Zahl der Transplantationen erhöhen und damit seine Reputation steigern wollen, lehnte das Landgericht (LG) ab. Vielmehr befanden sich alle Patienten in einem akut lebensbedrohlichen Zustand.

Für die Frage, ob dem Angeklagten Körperverletzungs- oder gar (versuchte) Tötungsdelikte vorgeworfen werden können, musste sich das LG mit dem Verhältnis dieser Strafvorschriften zum Transplantationsgesetz (TPG) auseinandersetzen. Die darin verletzten Vorschriften dienen allerdings nur dem Gerechtigkeitsprinzip bei der Organverteilung. Ein darüberhinausgehender Gesetzeszweck zur Verhinderung von Straftaten nach §§ 211 ff., 223 ff. StGB ist nicht ersichtlich, so auch der Senat.

Im Ergebnis kann die Frage der Zurechenbarkeit allerdings zumindest für die „Wartelistenfälle“ offenbleiben, da eine derartige Manipulation bereits von dem eigens geschaffenen Straftatbestand des § 19 IIa TPG erfasst wird. Würde das dort beschriebene Verhalten auch gleichzeitig den Tatbestand von Tötungsdelikten erfüllen, wäre die Vorschrift obsolet. Auch diesen Ansatz vertieft der BGH allerdings nicht weiter und stützt die Begründung des Freispruchs auf andere Aspekte.

Zwar setzt § 212 Abs. 1 StGB als Erfolgsdelikt keine bestimmte Handlung voraus, die bei den „Wartelistenfällen“ verletzte „Alkoholkarenzklausel“ (bei alkoholbedingter Leberzirrhose ist zur Aufnahme in die Liste eine sechsmonatige Abstinenz erforderlich) beruht allerdings nicht auf der wissenschaftlich-medizinischen Schlussfolgerung, dass eine Lebertransplantation vor Ablauf der sechs Monate sinnlos sei. Die Aufnahme von Patienten in die Liste ohne die erforderliche Abstinenz kann für sich genommen also noch keine Strafbarkeit wegen (versuchten) Totschlags begründen. Eine Verurteilung könnte sich daher nur auf den formalen Verstoß der Richtlinie stützen. In diesem Fall käme § 212 Abs. 1 StGB ein Blankettnorm-artiger Charakter zu, der durch die Richtlinien ausgefüllt würde. Zu Recht befindet der BGH, dass diese Auslegung Art. 103 Abs. 2 GG verletze.

Der Senat äußert zudem tiefgreifende Bedenken an der sog. Alkoholkarenzklausel. Er beruft sich dazu auf Studien, die eine medizinische Indikation für eine Transplantation bei Alkoholkranken auch ohne Karenzzeit bejahen. So wie im vorliegenden Fall drohe zudem regelmäßig, dass Patienten die Abstinenz angesichts einer akuten, lebensgefährlichen Dekompensation nicht überleben. Aus diesem Grund stellen die Richter die Verfassungswidrigkeit der Richtlinie fest. Diese ist kein formelles Gesetz, sodass dies dem BGH ohne Missachtung des Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) möglich ist.

Damit fehlt es an einer Strafbarkeit nach §§ 211 f., 223 ff. StGB bezogen auf die „Wartelistenfälle“. Für die „Manipulationsfälle“ lässt der BGH alle vorangestellten Erwägungen dahinstehen und stellt einzig auf den (bedingten) Tötungsvorsatz ab. Der Senat prüft umfassend Wissens- und Willenselement mit dem Ergebnis, dass weder das eine noch das andere in ausreichender Weise vorliegt. So handelte der Arzt ausschließlich, um seine Patienten vor dem in naher Zukunft eintretenden Tod zu bewahren. Er wusste nicht, ob eine Transplantation bei den „überholten“ Patienten dringlicher gewesen wäre. Zwar habe er den Tod eines anderen Patienten für denkbar gehalten, aber darauf vertraut, dass dieser nicht eintreten werde. In seine Überlegungen mit einbezogen hat der BGH zudem die zahlreichen Unwägbarkeiten einer Organvergabe. So sterben einige Patienten trotz Transplantation, andere erhalten auch bei manipulierter Warteliste noch weitere Organangebote, sodass sich die Manipulation im Zweifel gar nicht oder nur geringfügig auswirkt. Der Kausalverlauf ist auch in seinen wesentlichen Zügen daher nur schwer vorherzusehen, sodass der Angeklagte berechtigterweise darauf vertrauen durfte, dass seine Manipulation lediglich die Leben seiner Patienten retten, nicht aber für andere zum Tod führen würde.

Ergänzend führt der BGH aus, der eigentliche Vorwurf liege nicht in der Manipulation selbst, sondern in der daraus folgenden Nichtzuteilung des Organs an den „überholten“ Patienten. Die Nichtzuteilung stellt ein Unterlassen dar, sodass zur Begründung die Quasi-Kausalität herangezogen werden muss. Es bedarf folglich der hypothetischen Erwägung, ob der „überholte“ Patient bei einer Transplantation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit länger gelebt hätte. Angesichts des hohen Risikos (5-10 Prozent), unmittelbar nach einer Transplantation zu sterben, kann ein solcher Beweis nicht geführt werden. Es ist völlig unklar, ob die Leber für den „überholten“ Patienten geeignet und dieser zu einer Transplantation körperlich in der Lage gewesen wäre.

Aus diesem Grund kann auch dem Angeklagten nicht unterstellt werden, er habe die Vorstellung gehabt, durch die Nichtzuteilung den Tod oder eine Leidensverschlimmerung herbeigeführt zu haben. Darüber hinaus bestand zum gegenständlichen Zeitpunkt ein nahezu umfassendes Angebot an Lebern für schwer Erkrankte, was das LG zugleich als Indiz für ein fehlendes Willenselement wertete.

So lehnen das LG und bestätigend auch der BGH eine Strafbarkeit sowohl wegen (versuchten) Totschlags, als auch wegen (versuchter) Körperverletzung ab.

Angesichts des großen Medienechos und der sensiblen Problematik, die in vielerlei Hinsicht zu erhitzten Debatten führt, handelt es sich um eine durchaus überraschende Entscheidung des BGH. Sie zeigt aber eine saubere und an den Tatbestandsmerkmalen der einschlägigen Delikte durchgeführte Subsumtion auf, die im Ergebnis zum juristisch richtigen Ergebnis geführt hat. Ob das Verhalten des Transplantationschirurgen darüber hinaus aber moralisch vertretbar war, liegt ohnehin nicht in der Entscheidungskompetenz der Richter.

Die Entscheidung zum Nachlesen

Autor

zu sehen ist ein Portrait des Fachanwalts Felix Haug.
Rechtsanwalt Felix F. Haug
  • Fachanwalt für Strafrecht
  • Spezialisierung im Medizinstrafrecht
  • Spezialisierte Strafrechtskanzlei am Kurfürstendamm in Berlin